Kinder sind etwas Wunderbares. Manchmal muss man sich das nur immer wieder sagen. Dieser Abend gehört definitiv dazu. Mein Tag war lang und ich bin hungrig und müde. Angekommen zuhause wuseln die beiden Wilden durch Omas Wohnzimmer. Erstaunlich wie Kinder gegen Abend noch einmal aufdrehen können, während Erwachsene sich zusammenreißen müssen nicht beim Essen einzuschlafen. Es ist 19 Uhr. Wir sitzen am gedeckten Tisch, das Essen dampft noch. Mein Sohn ist schon ein richtig großer Junge und nimmt auf seinem eigenen Stuhl am Kopf des Tisches Platz. Ich bereite den Teller vor. Das geht dem kleinen Vielfraß nicht schnell genug. Er rutscht auf seinem Hintern unruhig hin und her. Ich versuche das zu ignorieren. Als die kleine Raupe es nicht mehr erwarten kann, klettert sie noch höher auf den Stuhl und setzt sich auf die Lehne, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich sehe das aus dem Augenwinkel, die Alarmsensoren gehen an. Ich bin nicht schnell genug. Klatsch! Mein Sohn fällt rückwärts vom Stuhl. Ich sehe es in Zeitlupe wie er direkt und unvermittelt mit Hinterkopf und Nacken auf den Fliesen aufschlägt. Er beginnt sofort zu schreien und zu weinen. Ich springe auf. Das war nicht gut! Nicht zu vergleichen mit all den Stürzen zuvor. Und dieser kleine Mensch hat einige Erfahrung im Fallen. Im Gegensatz zu sonst wird dieser Sturz aber nicht durch die Schultern, Arme oder den Brustkorb abgefangen. Dieses Mal geht es direkt auf den Kopf und das ganze Körpergewicht kommt hinterher und das aus über einem Meter Höhe. Ich packe den weinenden Jungen und mache mich zusammen mit Oma direkt auf ins Krankenhaus. Fast die gesamte Fahrt über weint der kleine Bruchpilot.

Angekommen im Krankenhaus geht es zunächst in die Notaufnahme. Meine Cousine ist hier Krankenschwester und hat gleich Schichtende, daher schreibe ich sie an und bitte sie gleich dazu zu kommen. Zum Glück müssen wir nicht lange warten. Das kleine Menschenkind hat sich mittlerweile beruhigt und hat sich in meinem Arm zusammen gerollt. Er ist kreidebleich und friert. An seinem Kopf ist nichts zu sehen, dennoch legt der Arzt uns nahe zur Beobachtung über Nacht hier zu bleiben. Das geht mir zwar gewaltig gegen den Strich, aber das abnormal ruhige Verhalten meines sonst so quirligen Jungen macht mir Sorgen und ich lasse mich breit schlagen. Also ab zur Kinderstation. Der gefallene Engel ist mittlerweile vollkommen fertig und schläft beinahe auf Omas Arm ein. Eine Schwester kommt zu uns: „Sind sie der Legostein?“. Wir schauen zuerst uns, dann die Schwester fragend an. „Nein… Wir sind vom Stuhl gestürzt.“, antworte ich langsam. „Oh. Dann kommen sie mal mit.“. Während wir ihr folgen, frage ich mich wo der von ihr erwähnte Legostein wohl gelandet sein mag.
Das Behandlungszimmer kenne ich. Das letzte Mal war ich vor gut 2 Jahren hier. Damals überprüften wir das „Loch im Herzen“ meiner Tochter und durften erfreulicherweise feststellen, dass sich der Ductus, der auch nach Geburt noch geblieben war, vollständig geschlossen hatte. Das waren großartige Neuigkeiten, denn seit dem steht ihrer Karriere als Tiefseetaucherin nichts mehr im Wege. Falls sie das je in Erwägung ziehen sollte… Der Grund für unseren aktuellen Besuch ist aber etwas komplett anderes und mein Sohn reißt mich schlagartig aus meinen Gedanken, indem er unvermittelt anfängt sich zu erbrechen. Schöne Scheiße, äh, Kotze. Gehirnerschütterung. Die Schwester kommt zurück ins Zimmer und erklärt uns, dass wir auf der falschen Station sind. Also packen wir meinen Sohn, ein paar Tücher und eine Spuckschale und wandern durchs Krankenhaus auf der Suche nach der richtigen Station.
Dort angekommen werden wir von den Kinderkrankenschwestern und meiner Cousine empfangen. Zum Glück bekommen wir schnell ein Zimmer. Es ist kurz nach 20 Uhr. Da wir natürlich nichts an Anziehsachen mitgenommen haben in unserem eiligen Aufbruch, bekommen wir Kleidung vom Krankenhaus und können das Häufchen Elend von den vollgespuckten Klamotten befreien. Meine Cousine besorgt mir unterdessen eine fesche Schwesternkluft aus der Krankenhauswäscherei, denn ich bin nicht minder eingesaut. Heute Morgen gab es wohl Cherrytomaten im Kindergarten… Gerade abgewaschen und umgezogen geht es wieder los. Den letzten Rest Mageninhalt verteilt mein Sohn auf Zimmerboden und seinem sauberen Schlafanzug. Er weint. Meine Mutter, meine Cousine und ich atmen tief durch und ziehen den schreienden Jungen abermals um. Die Schwester wuselt unterdessen wild umher auf der Suche nach einer passenden Blutdruckmanschette. Wir versuchen das wieder ruhige Kind in das Babybett zu bugsieren, da es ziemlich fertig erscheint. Doch nicht mit meinem Sohn! Er wehrt sich mit Leibeskräften dagegen. Ich kann es auch gut verstehen: Das Bett sieht aus wie ein Kaninchenkäfig in einem Tierversuchslabor. Um ihn zu beruhigen, nehmen wir ihn auf den Arm und setzen uns mit ihm in das Elternbeistellbett. Eine wirkliche Entspannung der Lage tritt aber erst ein, als Oma und meine Cousine auf die Idee kommen auf Youtube nach Trecker-Videos zu suchen. Stille. Ein Hoch auf die Technik! Unter diesen Voraussetzungen lässt sich der nun beinahe hypnotisierte Junge eine Blutdruckmanschette und Sauerstoffsättigungssonde anlegen. Meine Begleiter verabschieden sich von uns.
Es ist 22:30 Uhr. Mein Sohn liegt verkabelt in meinem Arm. In einem viel zu kleinen und unbequemen Bett. Erst jetzt nehme ich wirklich wahr, dass wir uns das Zimmer mit einer weiteren Mama und ihrem Sohn teilen, der ebenfalls rückwärts vom Stuhl auf seinen Hinterkopf gestürzt ist. Welch Ironie. Jede Stunde wird der Blutdruck gemessen. Beim Jungen nebenan im Bett ebenso. Bei seinem Überwachungsmonitor scheinen allerdings abweichende Grenzwerte eingestellt zu sein und so löst dieser bei jeder Messung einen Alarm aus. Die Station ist unterbesetzt und es dauert gefühlt eine Ewigkeit, bis eine Schwester den Piepton ausstellt. Es ist 23 Uhr und nach gefühlt 1000 Trecker-Videos ist mein kleiner Bruchpilot endlich eingeschlafen. Vor Jahren waren wir auf einem Stalljubiläum. Der Bauer, dem der Hof gehört, spielte ab 0 Uhr dann Videos von der letzten Strohernte ab. Ich stempelte ihn als verrückt ab. Ich schaue auf meinen schlafenden Sohn. Verrückt. Er dreht sich und die O2-Sonde löst sich vom großen Zeh. Warum muss er auch so Schweißmauken haben! Der Monitor bimmelt. Puls weg. Null-Linie. Die Schwester kommt und verpasst ihm eine neue Sonde ohne ihn zu wecken. Glück gehabt.

Mitten in der Nacht wird er wach und hat Hunger. Verständlich. Der Magen ist ja schließlich leer. Moment mal, meiner auch… Die Schwester bringt ihm Milch. Ich habe weiter Hunger. Nach weiteren 500 spannenden Trecker-Videos schläft mein Sohn wieder ein. Ich bin fertig und sehne ein Ende dieser Nacht herbei.
Zum Frühstück werden die Jungs entkabelt. Mein Sohn ist wieder er selbst. Gelernt hat er allerdings nicht und klettert keine 5 Minuten nachdem er befreit wurde auf den nächsten Stuhl! Der Doc kommt herein und kann nur grinsen über so viel Übermut. Visite. Wir bekommen grünes Licht und dürfen Heim. Mein Freund und meine Tochter holen uns kurze Zeit später ab und der Spuk ist vorbei. Ich freue mich auf Zuhause und auf mein eigenes Bett. So schlimm wie dieser Abend auch war: ich bin unendlich froh, dass nichts Schlimmes passiert ist. Die Schutzengel haben einen guten Job gemacht! Aber diese Geschichte hat auch etwas Gutes: sie erinnert mich daran eine Auslandsreiseversicherung abzuschließen. In ein paar Tagen geht es schließlich nach Italien und you never know!
PS: Wer mal seinen Krankenhausaufenthalt aufpeppen möchte, besorge sich Krankenschwesterkleidung. Das sorgt für viele verwunderte Gesichter, vor allem bei Schichtwechsel des Krankenhauspersonals.
PPS: Manchmal frage ich mich, ob dass Schicksal wirklich einen so derart schlechten Humor hat. Einen Tag nach Schreiben dieser Geschichte, ca. 2 Monate nach unserem Krankenhausaufenthaltes, sitze ich erneut in der Notaufnahme. Natürlich mit meinem Sohn. Die Schwester in der Notaufnahme schaut uns stirnrunzelnd an: “Waren Sie nicht erst vor 2 Monaten hier?”. “Ja. Da war es aber der Kopf.”, entgegne ich. Mein Sohn sitzt wieder wie ein Häufchen Elend auf meinem Schoß und schaut sie böse an. Was ist passiert? Kurzfassung: Es ist der 29.11.19 und wir machen uns gerade alle Mann für unsere Firmenweihnachtsfeier fertig. Die Kinder sollen mitkommen und Opa will den kleinen Mann einmal entstinkisieren, doch der denkt gar nicht daran. Um seiner Abneigung gegen frische Windeln noch mehr Ausdruck zu verleihen, lässt er sich zu Boden fallen. Dumm nur, dass er an der Hand gehalten wird. Und so kommt es, dass der Abend mit viel Gebrüll und Tränen endet. Mein Sohn sitzt schluchzend im Hundekissen. Zuerst verstehen wir das Ganze nicht. Seine Schwester versucht ihn noch aufzuheitern und zieht Grimassen, bietet ihm Weingummis und Pickup an. Nichts hilft. Ich packe ihn und nehme ihn in den Arm. Er brüllt noch mehr: “AUUAAAAA! AUUUUUUUUU!”. Ich versuche ihn zu beruhigen und schaue ihn fragend an. Irgendwie sieht er komisch aus. Seinen linken Arm lässt er merkwürdig hängen. Ich versuche ihn abzutasten. Keine gute Idee, mein Sohn brüllt erneut. Gut, der Arm scheint zu schmerzen. Es kommt der ultimative Test: Wir öffnen Youtube auf dem Handy und machen ein Trecker-Video an. Ich halte ihm das Handy hin: “Hier Schatz. Nimm. Willst du Trecker anschauen?”. Keine Reaktion. Er greift nicht danach. Also packen wir den kleinen Chaoten und machen uns mal wieder auf in die Notaufnahme.
Es ist kurz nach 19 Uhr. Die Ärztin vermutet einen ausgerenkten Ellenbogen. Doch beim Reaktionstest zieht er den Arm weg. Das spricht eigentlich dagegen. Da er aber definitiv starke Schmerzen hat, beschließen wir zu röntgen. Wir. Nicht so mein Sohn. Ich erkläre ihm, dass wir Fotos von seinem Arm machen wollen. Das ist zunächst auch in Ordnung für ihn, aber nur so lange er das Röntgengerät noch nicht gesehen hat. Dieses Ungetüm soll eine Kamera sein?! Vergiss es! Er gerät in Panik. Das wird auch nicht besser, als wir uns alle Bleischürzen anlegen müssen. Die bunten Bärchen darauf interessieren ihn nicht die Bohne. Als wir ihn auf die Liege legen und den Arm vorsichtig auf die Röntgenplatte legen wollen, mutiert er zum unglaublichen Hulk. Wir versuchen ihn auf der Liege zu halten, ich packe seinen Arm an Schulter und Handgelenk und versuche ihn für die Bilder ruhig zu halten. Er strampelt und brüllt fürchterlich! Ihm steht die blanke Panik ins Gesicht geschrieben. Eine wilde Katze zu röntgen kann nicht schlimmer sein. Nach einer gefühlten Ewigkeit haben wir es geschafft. Bloß raus hier. Als wir den Fahrstuhl erreicht haben, um zurück zur Notaufnahme und der Auswertung der Bilder zu gehen, werden wir auf dem Flur zurückgerufen: “Wir haben das Handgelenk vergessen!”. Wir schauen uns ängstlich an. Mein Sohn klammert sich an meinen Hals, heilfroh gerade noch mit dem Leben davon gekommen zu sein. “Schatzi, wir müssen noch ein Foto machen.” “Nein. Foto nein!”, er beginnt wieder zu weinen, doch es nützt nichts. Es tut mir furchtbar leid, als wir uns wieder mit Bleiwesten behängen. Die Schwester stellt einen tanzenden und singenden Bären auf die Liege. Der Junge hält kurz inne, doch die Angst ist doch größer und so geht es in Runde 2.
Als wir fertig sind und der Schreck verflogen ist, verändert sich sein Zustand schlagartig. Plötzlich blubbert er fröhlich, packt sein Nuckituch mit der LINKEN (!) verletzten Hand und tobt durch das Wartezimmer. Ein klarer Fall von Wunderheilung. Also hatte er doch etwas ausgerenkt, was im wilden Kampf auf dem Röntgentisch wieder an seinen angestammten Platz zurückgerutscht sein wird. Das bestätigt der Doc dann später: Radiusköpfchen-Subluxation, zu Deutsch: Teilausrenkung des Speichenköpfchens. Das bedarf zum Glück keiner weiteren Behandlung und so nimmt der Hosenscheißer seinen Behandlungsbrief höchst persönlich vom Arzt entgegen und verabschiedet sich freundlich mit “Tschüss, ciao.” Im Auto ist er wieder bester Laune und wünscht sich Pizza und Pickup. Es ist kurz vor 23 Uhr, als wir Zuhause ankommen. Die Weihnachtsfeier hat sich damit erledigt. Es gibt Tiefkühlpizza und einen entspannten Couchabend.
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