
Der Drache ohne Beine
Meine Tochter ist 5 und das Laternenfest im Kindergarten steht bevor. Auch dieses Jahr wird wieder ein gemeinsames Laternenbasteln mit Mama und Papa organisiert. Laternenrohlinge werden von den Erzieherinnen organisiert. So weit so gut. Doch meine Tochter wäre nicht die Drachenlady, wenn sie nicht genaue Vorstellungen von ihrer Laterne hätte: Sie wünscht sich natürlich einen Drachen. Aber nicht irgendeinen. So naiv war ich auch gar nicht das auch nur für eine Sekunde anzunehmen. Es soll ein Riesenhafter Albtraum werden. So wie Hakenzahn (1), aber in grün. Hellgrün. Und mit ganz viel Glitzer.
Warum auch nicht. Gut. Auf der Arbeit geht es aber gerade drunter und drüber. Natürlich schaffe ich es nicht zum Basteltermin in den Kindergarten zu gehen. Ich hole mein Kind abends dort ab und werde mit den Worten empfangen: “Alle Kinder haben mit ihren Mamas Laternen in der Turnhalle gebastelt. Alle Mamas waren da! Alle, außer dir!”. Meine Tochter durchbohrt mich mit ihren bösen Blicken. Ich fühle mich schlagartig schlecht. Furchtbar schlecht. Ich hatte schon die ganzen Tage ein latent schlechtes Gewissen, sobald ich wusste, dass mir die Arbeit dazwischenkommt. Unser Kinderarzt sagte mal zu mir, dass Mütter grundsätzlich und immer unter einem schlechten Gewissen leiden. Wie Recht er hat. Ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Job, dem Partner, dem Freundeskreis, der Familie, dem Haustier, dem Haushalt, dem Trainingszustand des eignen Körpers, die Liste ließe sich unendlich fortführen. Doch nichts ist so schlimm für eine Mama wie die eigene Tochter, die einem solche Vorwürfe entgegenschleudert. Ich fühle mich miserabel und schuldig. Dafür verspreche ich ihr eine mega Laterne, die die anderen Kinder neidisch machen wird. Ich gehe in mich und durchstöbere das Internet nach Bildern ihres Wunschdrachens. Warum konnte es kein Gronckel werden?! Kurzer Exkurs in die Welt der Drachen: Ich stehe vor dem Problem, dass der bestellte Laternenrohling rund ist. Ein Riesenhafter Albtraum ist allerdings ein sehr großer und langer Drache. Er besitzt keinen dicken rundlichen Körper, sondern einen langen Schwanz, einen länglichen, schlanken Hals, große fledermausähnliche Flügel und einen markanten Kopf mit langen gebogenen Hörnern und glühenden Augen, sowie einer Reihe von langen spitzen Zähnen. Ich habe keine Ahnung wie ich das umsetzen soll, fertige mehrere Entwürfe an und verwerfe sie alle der Reihe nach. Nach langem Kopfzerbrechen kommt mir eine zündende Idee. Ich fertige aus Pappe Umrisse des Kopfes an und hinterlege sie mit hellgrüner Transparentfolie. Es kommen Hörner hinzu, eine Reihe spitzer Zähne klebe ich ins Maul. Der Drache nimmt Formen an. Details des Gesichtes, der Augen und Schuppen male ich per Hand auf. Strich für Strich steigt meine Laune und ich bin stolz auf mein Werk. Während mein Freund den zweiten Kopf, eine Kopie des ersten, mit Skalpell ausschneidet, verliere ich mich in Details. Nach Stunden sind wir um 1 Uhr nachts endlich fertig. Den fragilen und filigranen Kopf habe ich vor auf den Rohling zu kleben, damit er von hinten beleuchtet wird und die glühenden Augen so perfekt zur Geltung gebracht werden. Das wird eine mega Laterne! Super kreativ und wunderschön. Die Einzelteile lege ich beiseite, damit ich sie morgen mit meiner Tochter zusammenkleben kann. Sie möchte ja schließlich auch mit basteln.

Stolz präsentiere ich die Einzelteile am nächsten Abend. Endlich ist auch die riesen Batterie Glitzer angekommen. Perfekt! Meine Tochter ist begeistert und findet ihren Drachen toll. Mit großem Eifer und Freude verziert sie den Kopf des Drachen. Alles glitzert: der Tisch, der Stuhl, der Boden, wir, und auch die Laterne. Wir sind sehr zufrieden mit unserem Werk und wollen die Laternenteile nun zusammensetzen. Klack. Ohne Vorwarnung kippt die Laune und meine Tochter verwandelt sich in einen wütenden, schnaubenden Drachen. Sie schreit wild und springt durch das Wohnzimmer: “NEEEEIIINN! So nicht! So ist die Laterne HÄSSLICH! HÄÄÄÄSSSSSLICH! Der Kopf muss an die Seite! Da müssen noch Flügel dran! Und Beine und ein Schwanz! Alle Kinder haben Laternen mit Beinen! Der Kopf soll nicht leuchten! Das ist HÄSSSLICH!”. Ihr Kopf ist rot, ihre Haare sind wild und Tränen laufen ihr über die Wangen. Ihr Schreien ist mehr ein Schluchzen und die Worte sind nur noch schwer zu verstehen. Ich versuche es zu erklären: ”Schatz, schau doch. Aber so leuchtet der Kopf doch so schön! Schau mal die Augen...”, doch das will sie nicht hören: “Lass mich in RUUUUHEEEE! Das ist HÄSSSSSLICH!”. Ich versuche es noch einmal: “ Schatzi, der Kopf ist zu instabil. Ich kann ihn nicht an die Seite kleben. Da muss nur ein bisschen Wind kommen und er reißt ab.” Doch Schatzi ist zu einem Drachen mutiert und hat kein Verständnis für mein blödes erwachsenes Gelaber. Sie schreit und tobt und knallt die Türen. Es ist ihr egal, was ich versuche zu erklären. Ich ringe mit mir. Ein Teil von mir ist wütend auf meine undankbare Tochter, die kein Verständnis für meine stressige Woche hat und dass ich trotz alledem mir die Nächte um die Ohren schlage, um ihr eine mega Laterne zu basteln. Sie müsste sich eigentlich wie Bolle darüber freuen. Stattdessen steht sie vor mir und speit Feuer. Ich reiße mich zusammen und schiebe meinen Ärger beiseite. Es gelingt mir wirklich und ich frage sie, was denn falsch an der Laterne sei, wie sie richtig aussehen würde. Mein kleiner Drache beruhigt sich und versucht mir zu erklären, was sie bedrückt. Typisch meine Tochter. Sie hat eine ganz genaue Vorstellung von ihrer Laterne, ein ganz konkretes Bild. Sie ist zwar nicht in der Lage das alleine umzusetzen, aber sie kann es mir beschreiben. Ich beginne zu verstehen. Sie hat ein inneres Bild vor Augen und ist bei der Umsetzung auf meine Hilfe angewiesen. Ich versuche dem gerecht zu werden: hellgrüner Riesenhafter Albtraum. Doch dem mische ich meine eigenen Ideen hinzu und drücke dem Ergebnis meinen eigenen Stempel auf und ignoriere damit ihre Ideen. Das ist das, was sie frustriert, und zwar zutiefst. Sie kann nicht Fünfe gerade sein lassen, so wie es Erwachsene tun würden. Für sie ist es auch nicht nur eine Laterne. Das hier hat eine wirkliche Bedeutung für sie. Daher hat sie auch kein Verständnis für meine blöden Erklärungen. Jetzt verstehe ich sie und fühle mich wieder schlecht. Es tut mir leid, dass ich sie übergangen habe. Auf zur Schadensbegrenzung. Ich sage ihr, dass ich versuche die Laterne zu retten und wir vertragen uns. Nachdem die Kinder im Bett sind, geht es in die nächste Nachtschicht. Ich bastele Flügel und einen Schwanz und setze alles zusammen. Erschöpft gehe ich ins Bett und hoffe, dass mein Werk nun besser ankommt.

Am nächsten Morgen kommt meine Tochter ins Wohnzimmer und begutachtet die modifizierte Laterne. Ich bin angespannt und befürchte einen weiteren Wutausbruch. “Da sind ja jetzt Flügel dran. So sieht das doch besser aus.”, sie nickt, geht weiter und zieht sich ohne weiteren Kommentar die Schuhe an. Abgenickt. Erleichterung! Die modifizierte Laterne scheint auf Akzeptanz gestoßen zu sein und wird abends weiter mit Glitzer bestäubt. Dieser Abend verläuft weitaus harmonischer und ohne Zwischenfälle.
Ich bringe sie ins Bett. Nach unserem Gute-Nacht-Ritual schließe ich die Zimmertür, doch bevor mir dies vollständig gelungen ist, höre ich meine Tochter: “Mama?”.
“Ja, Schatz?”.
“Mama, alle Kinder haben Laternen mit Beinen. Bastelst du gleich noch Beine?”,
ich halte kurz den Atem an, zähle bis 3 und antworte dann bestimmt: “ Du willst ja jetzt nicht wirklich über Beine diskutieren, oder? Ich wünsche dir eine gute Nacht.”.
“OK. Gute Nacht, Mama.” Tür zu.

(1) Meine Tochter ist ein riesen Fan von “Drachenzähmen leicht gemacht” (Originaltitel: How to tame your dragon). Dabei handelt es sich um eine zwölfteilige Kinderbuchreihe von Cressida Cowell aus dem Jahr 2003, bei der man dem Helden Hicks durch die Winkingerwelt voller abenteuerlichen Drachen folgt. Diese Geschichte wurde dann ab 2010 von Dreamworks in Form von 3 Spielfilmen und Serienablegern verfilmt. Für alle kleinen und großen Fantasyfans nur zu empfehlen! Hakenzahn ist dabei einer von ihren absoluten Lieblingsdrachen und ist ein Riesenhafter Albtraum.
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