und die Weihnachtsbaumindustrie

Es ist 7 Minuten vor 5. Eigentlich habe ich schon Feierabend, doch ich will noch fertig werden. Doch der Blick auf die Uhr schreckt mich auf: ich muss meine Tochter bis 17 Uhr im Kindergarten abholen. Mist! Nicht schon wieder! Erst gestern habe ich versunken in meine Arbeit die Zeit vergessen und war zu spät gekommen. Die letzten beiden Erzieherinnen mussten mit meiner Tochter bis zu meiner Ankunft warten. Ich fühlte mich schlecht, dass ich die beiden um ihren Feierabend gebracht hatte und dass meine Tochter an der Eingangstür als letztes Kind auf mich warten musste. Zum Glück nahm sie mir dies nicht übermäßig übel, schließlich hatte ich ihr einen Schokodonut mit bunten Streuseln mitgebracht. Den beiden Erzieherinnen holte ich eine Box Schokolade zur kleinen Entschädigung. Es kann doch nicht wahr sein, dass ich jetzt wieder unpünktlich bin! Gut, früher war ich das immer. Während der Schulzeit gingen meine Freunde schon dazu über mich früher zu Treffen zu bestellen, sodass ich es gerade rechtzeitig schaffte. Der Wille war immer da. Woran meine Unpünktlichkeit lag, kann ich bis heute nicht genau sagen. Vielleicht haben magische Wesen es auf mich abgesehen und heimlich Minuten geklaut. So ist es bestimmt! Doch seit längerem schon hatte ich mich gebessert und die Zeit ganz gut im Griff. Diese Woche war allerdings der Wurm drin, die Arbeit hatte mich fest im Griff. Und dabei habe ich nicht einmal ein unglaublich spannendes Kreativ- oder Grafikprojekt in der Mache, welches ohne weiteres Stunden verfliegen lässt. Nein, ich war gefangen in Dokumentenvorlagen, Druckersteuerungseinstellungen und Java. Ich hasse Java.
Um vielleicht doch noch pünktlich zu kommen, schmeiße ich alles in meine Tasche. Der Laptop wird einfach zugeklappt und ebenfalls eingesteckt. Schlüssel, Handy Jacke, los! Zum Glück ist der Kindergarten um die Ecke. Ich fahre vor, als die 5 Uhr Nachrichten im Radio laufen. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass das Auto der Erzieherin noch da ist, welche schon gestern auf mich warten musste. Mist. Ich sprinte aus dem Auto und laufe in den Kindergarten. Natürlich ist meine Tochter die Letzte. Sie kommt auf mich zu getrottet, ihre Augen sind gerötet und sie fängt an zu weinen, als sie mich sieht. „Was ist mit dir?!“, ich habe Angst, dass sie weint, weil ich so spät dran bin. Ihre Erzieherin steht an den Türrahmen gelehnt und klärt mich auf: “Sie ist sauer. Wir haben uns etwas gestritten. Zuerst hat sie Anna die Illusion von Weihnachtsbäumen genommen und dann hat sie sich mit ihr wegen einer Feder gestritten, die sie da soeben zerknüddelt.“ Ich schaue auf meine Tochter. In ihren Händen sind vom Schweiß verklebte Reste einer kleinen schwarzen Dekofeder zu sehen. Sie bricht lauthals in Tränen aus und ich führe sie zum Auto.

Nachdem wir losgefahren sind, frage ich sie was es mit den Weihnachtsbäumen auf sich hat. „Will ich nicht drüber reden!“. „Wenn du es mir jetzt nicht erzählen willst, dann frage ich morgen im Kindergarten bei den Erziehern nach, was los war. Entweder du erzählst es mir, oder sie.“ Ich merke, dass es ihr sichtlich schwer fällt, doch nachdem sie tief Luft geholt hat, platzt es aus ihr raus. Sie klingt sehr aufgeregt. Immer wieder bricht ihre Stimme und sie bricht in Tränen aus. Einige Worte kann ich nicht verstehen, weil sich ihre Stimme überschlägt: „Mamaaaa! Anna hat gesagt sie hat einen echten Weihnachtsbaum. Doch das stimmt gar nicht. Die darf nur einen künstlichen Baum haben! Weil….. weil man darf gar keine Bäume absägen!!! (Schluchzen) Die bekommen dann über das Wasser gar nicht genug Nährstoffe und verlieren dann ihre Nadeln und sterben dann! Dann sind die tot und wir müssen die dann wegschmeißen!!!“ Ja, das nennt eine schwedische Möbelfirma dann Knut, denke ich mir, doch verkneife mir jeglichen Kommentar, da mein Kind bitterlich weint und fortfährt: „Und die Menschen machen so einfach die Bäume kaputt. Die machen die ganze Natur kaputt! Die sägen die Bäume ab und schneiden Äste für Adventskränze ab und alles stirbt und ist dann tot! Was ist mit der Natur?! Was ist dann mit den Rehen und den Tieren im Wald? Wenn die Menschen alle Bäume absägen und den Wald kaputt machen, dann müssen die alle verhungern!“ Ich versuche sie zu beschwichtigen „Schatz, Weihnachtsbäume werden auf großen Plantagen angepflanzt, damit sie hinterher Weihnachtsbäume werden. Niemand geht in den Wald und sägt da einfach Bäume ab und klaut den Rehen die Nahrung.“
Wir stehen an der Ampel und ich muss den Kopf schütteln. Ich diskutiere hier mit meiner 5 Jahre alten Tochter nicht wirklich über die Weihnachtsbaumindustrie und ihre Folgen!? Ich sehe mich schon in der Diskussion mit der Mutter von Anna, die von ihr angegriffen wurde, weil sie einen echten Weihnachtsbaum zuhause haben. Hilfe! Meine Tochter ist Greta Thunberg! Ich fühle mich erneut ein Stück weit schuldig an dieser Situation. Schließlich war ich auch dafür dieses Jahr erstmals keinen echten Baum aufzustellen. Klimadiskussion, ökologischer Fußabdruck und so. Jetzt haben wir eine festliche Weihnachtsleiter mit einem Lama anstatt Weihnachtsstern. Ich versuche meiner Tochter noch einmal klar zu machen, dass sie grundsätzlich Recht hat, von anderen aber nicht erwarten kann, dass sie es ganz genauso machen. Als wir weiter fahren bricht sie das Schweigen: „Da! Mama, siehst du?! Da haben die auch einfach Bäume gefällt! Und das hier ist keine Plantage, das ist echter Wald!“ „Das stimmt. Aber das waren kranke oder vom Sturm beschädigte Bäume. Die mussten gefällt werden. Sonst hätten sie die anderen Bäume auch krank gemacht. Oder stell dir mal vor die wären umgefallen und hätten dann andere Bäume beschädigt. Oder sie hätten vielleicht Kinder verletzt.“ (Oder Rehe).

Doch das war nur der erste Akt. Der zweite folgt sogleich: „Sag mal, was hat es jetzt mit der Feder auf sich?“ Meine Tochter, die sich eigentlich wieder halbwegs gefangen hatte, bricht erneut in Tränen aus: „Ich habe beim Spielen eine Feder gefunden und am Ende wollte Anna mir die wegnehmen. Dann hat die Erzieherin ihr einfach eine andere gegeben. Eine viiiieeeel Gröööößeräää! Eineee eeeeechte Pfauenfedaaaaa! Und ich hatte nur diese blöde, kleine gogo(1) Fedaaa. Die ist nicht einmal echt! Die ist bestimmt nur angemalt!“ Von der Rückbank im Auto kommt nur noch heftiges Schluchzen eines zutiefst beleidigten Mädchens. Ich versuche ihr zu sagen, dass es eben Pech war, dass Anna eine größere Feder abbekommen hat, doch das will sie nicht hören: „Peeech?! Das ist kein Pech!!! Das ist GEMEIN!“ „Naja, gemein ist auch, dass du eine Feder hattest und Anna nicht. Du hättest deine Feder auch abgeben können. Dann hättet ihr beide keine gehabt. Das wäre dann fair gewesen.“ „LASSS MICH IN RUHEEEE! Ich hätte diese blöde Feder wieder abgeben sollen! Das ist GEMEIN!!!“ Dass Anna und meine Tochter sich häufig in den Haaren haben, war mir schon aufgefallen. Dieser Umstand ist umso schwieriger, da Anna die kleine Schwester von der Sandkastenliebe meiner Tochter ist. „Was hat eigentlich Kristoff dazu gesagt, dass ihr euch so gestritten habt?“, frage ich. „Deeer?! Der hat gar nix gesagt. Nur blöd geguckt und geschwiegen wie ein Stein!“ Typisch Mann, denke ich mir und bin zugleich verwundert von den Worten meiner kleinen Tochter. „Schatz, darf ich dich gleich erst einmal drücken, wenn wir Zuhause sind? Ich möchte nicht, dass du so traurig bist.“ „Hmmmhmm.“ Vor der Haustür packe ich mir meine kleine Greta und drücke sie ganz fest. Ach, ich bin schon irgendwie stolz auf meinen kleinen Weltverbesserer!
Als wir ins Wohnzimmer kommen, sehe ich meinen Sohn, der übermütig, frech und laut durch den Raum rennt und einen Blödsinn nach dem nächsten anstellt. Seine Haare sind wild, die Rotze läuft mal wieder aus der Erkältungsnase und er ist obenrum nur noch mit Unterhemd bekleidet und das auch nur noch mit einer Schulter. Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie sieht er aus wie eine Mischung aus Bamm-Bamm von den Flintstones und Bruce Willis in Stirb Langsam. Er rennt in die Küche und matscht in der dreckigen Spülmaschine rum. Ich atme tief durch und erwische mich dabei wie ich sehnsüchtig an mein Java denken muss…
1: gogo ist ein selbst kreierter Begriff der Kindergarten-Kinder (genaue Quelle nicht bekannt) und soll so viel wie Schwachsinn, Blödsinn, dumm, dämlich bedeuten
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