Es ist zerbrochen und der Boden klebt vom Holunderblütensirup
Jeder kennt sie. Diese Tage, an denen alles schief läuft und man froh ist, wenn man sie überstanden hat. Doch manchmal reihen sich mehrere dieser Tage aneinander und zehren an den Nerven aller Beteiligter. Doch für mich ist Totstellen einfach keine Option. Also geht es immer weiter, auf in die neue Woche!
Ich komme ins Büro und begrüße meine Kollegen nach dem Wochenende. „Eva, naaaa?? Wie geht es dir? Wie war dein Wochenende?“. Meine Kollegin schaut mich gut gelaunt und voller Erwartung an. Mein Wochenende. Wo soll ich da nur anfangen?
Schlaftrunken stehe ich auf und trotte ins Wohnzimmer. Dort sitzt mein 4 jähriger Sohn, der unter der Woche kaum aus dem Bett zu bekommen ist, auf dem Sofa. Jede Freitagnacht aufs Neue durchläuft er eine wundersame Verwandlung, ähnlich einer Metamorphose. Die kleine morgenmuffelige Raupe erwacht dann jeden Samstag und Sonntag gemeinsam mit den ersten Sonnenstrahlen in aller Frühe und plant dann welche listigen Streiche er den noch schlafenden nichtsahnenden Opfern spielen kann. Und darin ist er verdammt gut.
Mein Blick schweift durch den Raum und ich versuche mir den Schlaf aus den Augen zu reiben. Auf dem Sofa liegen lauter Eisstiele und –papiere. Das kann doch nicht wahr sein! Mein Sohn schaut mich mit seinen großen braunen, unschuldigen Augen an. „Tschuldigung Mami!“.
„Och Mann! Es ist früh am Morgen und du hast jetzt ernsthaft die Kühltruhe geplündert und alle Flutschfinger aufgegessen?! Und warum kannst du den Müll nicht wenigstens wegwerfen?“. Der Halbstarke steht auf und watschelt um die Couch herum und fängt an die klebrigen Reste einzusammeln. Dabei stellt er sich sehr ungeschickt an und kommt ins Stolpern. Er stößt gegen den Couchtisch und befördert damit das seit dem Vorabend darauf stehende Glas mit einem lauten Klirr zu Boden. Überall sind Scherben. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass das Glas noch halb voll war. Mein Sohn schaut mich erschrocken an. Ich stehe da wie angewurzelt. Das war mein Glas, welches ich nicht weggeräumt hatte, ich Horst. Und darin war Wasser mit Holunderblütensirup. Das klebt ja kaum, denke ich mir.
„Ist schon gut.", ich zucke mit den Schultern „Räume du deinen Müll weg und ich mach hier sauber.“ Während mein kleiner Chaot in die Küche trottet, überlege ich, was ich zuerst angehe: Glasscherben oder Sirup?
Und das alles ohne Kaffee!
Nach diesem guten Start in den Samstagmorgen gibt es erst einmal Frühstück und Stallroutine. Gegen Mittag komme ich wieder in die Wohnung. Ich muss noch Fotos von meinem schönen Wade Sattel machen, den ich verkaufen möchte. Leider ist mein Pferd so erkrankt, dass ich ihn nicht mehr reiten kann. Er hat eine für Pferde extrem seltene Ohrenerkrankung. Sein Fall interessierte die Veterinäre im Umkreis so sehr, dass sie zur CT-Besprechung in die Klinik kamen. Insgesamt 5 Ärzte waren vor Ort und diskutierten wie wild über das mögliche Vorgehen. Ich kam mir vor wie auf einem Veterinärkongress.
Ich stellte mittendrin die Frage, ob ich für diesen spannenden Fall Eintritt verlangen dürfe. Das sorgte immerhin für einen kleinen Gag zwischendurch, wurde aber leider nicht in die Realität umgesetzt. Aber was sollte mein Pferd denn sonst haben, außer eine total unübliche und seltene Erkrankung? Das hätte ich mir ja denken können, schließlich haben ja irgendwie alle unserer Tiere untypische und seltene Krankheiten. Wir haben schon vergeblich versucht unseren Pferdebestand Studenten der Veterinärmedizin zur Verfügung zu stellen, damit sie diese Praxisbeispiele behandeln lernen können. Sogar die Fische im Aquarium haben psychische Erkrankungen und liegen gerne stundenlang bewegungslos auf der Seite auf dem Filter.
Ich schüttele den Kopf bei dem Gedanken daran. Ich versuche die Tür zum Heizungsraum zu öffnen, wo der Sattel zwischengeparkt wurde. Doch ich scheitere. Ich bekomme die Tür nur einen winzig kleinen Spalt auf. Irgendetwas blockiert sie. Ich versuche sie noch etwas weiter aufzuschieben und zwänge mich schließlich durch den Spalt. Ich fühle mich wie Indiana Jones, der gerade eine unbekannte Grabkammer öffnet, es fehlen nur die brennende Fackel, ein paar Skelette und eine hysterisch kreischende Frau. Und der Hut. Drinnen im Raum angekommen trifft mich der Schlag: der ganze Boden ist bedeckt mit Glitzer und Scherben. Überall im Raum liegen Teile meines Weihnachtsbaumschmucks herum, oder zumindest das, was davon übrig geblieben ist. Hinter der Tür steht ein Barhocker, der daran schuld war, dass ich kaum in den Raum gekommen bin. Er steht neben dem Warmwasserkessel, auf dem der Weihnachtsbaumschmuck in einer Kiste stand. Diese Kiste liegt jetzt auf dem Boden, der Inhalt überall verteilt. Es scheint unwahrscheinlich, dass die Kiste einfach nur herunter gerutscht ist. Und der Hocker stand eigentlich zusammengeklappt am anderen Ende des Raumes hinter 2 Koffern. Was zum Teufel war hier passiert?
Leider scheint es nur eine Antwort darauf zu geben:
Mein Sohn!

Nach einiger Aufräumarbeit (im Scherben Auflesen war ich ja jetzt Profi) habe ich auf der einen Seite eine fast leere Kiste mit intaktem Baumschmuck und einen großen Müllsack voller Glitzer und Glas auf der anderen Seite. Ich nehme meine Ausbeute und stapfe wütend zu meinem Sohn. „Mister! Kannst du mal bitte kommen? Kannst du mir sagen, was das hier ist?“ Mein Sohn steckt seinen Kopf in den Sack und entgegnet scheinbar gespielt erstaunt: „Was soll das sein, Mama? Sieht aus wie Weihnachtsbaumkugeln.“
„Kaputte Weihnachtsbaumkugeln.“, korrigiere ich. „ Kannst du mir erzählen, was da passiert ist?“. „Nö. Das weiß ich nicht.“, sagt er und dreht sich ohne mich eines Blickes zu würdigen um. Innerlich koche ich vor Wut. War das wirklich sein Ernst?
Ich setze ihm hinterher. „ Hey! Warst du das?“
„Ich weiß das nicht mehr.“ Oh, wie sehr mich diese Antwort ärgerte.
Das war jetzt seine neue Masche. Immer, wenn er nicht weiter über etwas reden wollte, kam ein „weiß ich nicht mehr“. Ich atme tief ein und versuche die Fassung zu bewahren bei dieser dreisten Lüge. Was tun? Ich entscheide mich zu Pokern (Vermutlich schlägt hier jetzt jeder Erziehungsberater die Hände über dem Kopf zusammen und ich schäme mich tatsächlich ein wenig für diesen fiesen Trick.)
Ich setze mich zu ihm und krame alles an potenziellem schauspielerischem Talent in mir zusammen, was ich nur aufbringen kann und fange an zu schluchzen. „ Was ist Mami?“, große braune Kulleraugen schauen mich an. „Weißt du, ich bin halt so traurig.“
„Weil dein Weihnachtsbaumschmuck kaputt ist?“. „Ja! Das war ganz toller und schöner Baumschmuck.“, da kullert mir doch tatsächlich eine Träne die Wange herunter! Bin ich vielleicht stolz auf mich!
„Mama, vielleicht können wir den reparieren?“, versucht mein Sohn mit kindlicher Naivität mich zu trösten. „Nein. Dafür sind die Scherben viel zu klein. Der ist einfach für immer kaputt!“. Er blickt mich an und legt seine kleine Hand auf meine Schulter: „Mami, ich wusste gar nicht, dass dir der Weihnachtsbaumschmuck so viel bedeutet.“
Ich versuche meine Überraschung über seinen Ausspruch nicht ganz raushängen zu lassen: „Schatz, warum hast du das gemacht?“
Er blickt nach unten und antwortet: “Ich weiß nicht. Ich war einfach so wütend. Ich kann meine Wut nicht kontrollieren. Ich habe dann einfach alles kaputt gemacht und als ich wieder zu mir gekommen bin, habe ich mich geschämt und hatte Angst, dass du schimpfst.“
Also doch, mein Verdacht war richtig!
„Warum warst du denn wütend auf mich?“, versuche ich herauszufinden.
„Weil du mich ins Bad geschickt hast und ich Zähneputzen sollte. Ich hasse Zähneputzen.“ Ach, mein kleiner Stinker. Ich schüttle den Kopf. „Aber dann darfst du doch nicht alles kaputt machen! Jetzt bin ich wirklich traurig.“. Mein kleiner Zerstörer nimmt mich in den Arm „Tschuldigung, Mami. Ich hab eine Idee: Ich wünsche mir zum Geburtstag neuen Weihnachtsbaumschmuck. Mein Geburtstag ist vor Weihnachten, dann ist der auch rechtzeitig da.“ Ich ziehe verdutzt die Augenbrauen hoch. Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Wie soll man da denn wirklich lange böse sein? Ich gebe ihm einen Kuss und beende das Theater. „Ich liebe dich, mein Schatz.“ „Ich liebe dich auch Mami.“
Für den Rest des Tages stürze ich mich in Hausarbeit. Ich sauge und wische das ganze Haus. Auch das Wohnzimmer noch ein weiteres Mal, denn der Boden klebt immer noch vom Holunderblütensirup. Der Berg von Bügelwäsche ist enorm und mein nächstes Ziel. Ich bin tatsächlich die schlechteste Hausfrau der Welt. Das hat auch meine Familie schnell erkannt, weshalb mein Vater mir ein T-Shirt mit der Aufschrift „A clean house is a sign of a wasted life“ geschenkt hat. Aber jetzt ist es wirklich an der Zeit und ich kann so meinen Restärger gut verarbeiten. Es ist schon spät am Abend, die Kinder nach langem Kampf endlich in ihren Betten. Normale Menschen würden jetzt auf der Couch sitzen und einen Film schauen und das Wochenende genießen. Und was tue ich? Ich bügele noch immer.
Als ich mich dann endlich entscheide Schluss zu machen, ist es nach 23 Uhr. Ich räume das Bügeleisen und –brett weg. Als ich wieder zurück ins Wohnzimmer komme, um die gebügelten Klamotten, die dort noch fein säuberlich auf ihren Bügeln am Holzbalken hingen, zu holen und in die Schränke zu räumen, finde ich das nächste Chaos vor: Unsere beiden Kätzchen Gudrun und Gamora alias Sodom und Gomorra hatten sich Zutritt verschafft und spielten Fangen in den ehemals gebügelten Kleidern. Voller Übermut springt die kleine Ninja-Katze aus dem mittlerweile am Boden liegenden Wäscheknäuel hervor und schlägt ihre Krallen in das noch am Balken hängende bodenlange Sommerkleid. Dieses hatte ich das letzte Mal auf einem Schwangerschaftsfotoshooting mit meiner Tochter und meiner alten Stute getragen. Das Kätzchen zieht sich a la Vertical Limit daran hoch und schafft es bis unter die Decke. Oben angekommen dreht sie sich um und stürzt sich auf ihre Schwester. Beide Chaoskätzchen kugeln sich auf dem Boden; rollen durch die Kleidung und sausen wie von der Tarantel gestochen wieder aus dem Raum.
„Oh, war dein Wochenende nicht gut?“, höre ich meine Kollegin sagen. Ich erwache aus meinem Tagtraum und schaue meine Kollegin an. „Ach so. Doch, ja. Ganz toll. Viel Arbeit halt, wie immer. Nichts Besonderes. Sag mal, wolltest du nicht eigentlich schon immer eine Katze haben?“
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