Viele Eltern wollen hochbegabte Kinder und glauben, dass das ein Segen wäre, solch ein Kind zu haben. Tatsächlich ist es aber so, dass ich mich manchmal gefragt habe, ob es nicht einfacher für alle wäre, wenn meine Kinder stattdessen "normal" wären. Viele Eltern hochbegabter Kinder stellen sich die Frage: „Wie bekomme ich das wieder weg?“. Sie sehen die Begabung ihres Kindes als Problem an oder sogar Fluch. Und ich kann sie verstehen.
Ich habe ein Interview gehört (Link findest du unten), in dem die Begabungspädagogin Daniela Heiser unfassbar viele Situationen und Problemstellungen schildert, die ich selber so gut kenne. Während ich ihr zuhörte fiel mir die Kinnlade runter und ich konnte glatt glauben, dass sie über meine Kinder und mich spricht.

Die Welt der hochbegabten Kinder
Daniela Heiser beschreibt im Interview das Gefühlsleben hochbegabter Kinder sehr eindrücklich und findet sehr treffende Metaphern, wie ich finde, um zu verstehen, was diese Kinder stetig beschäftigt.
Für die Kinder ist es so, dass sie sich aufgrund ihrer analytischen und logischen Denkfähigkeit schon früh fühlen, als wären sie ein Alien. Weil schon im Kindergarten und auch in der Krabbelgruppe merken sie, dass „irgendetwas mit ihnen nicht stimmt“. Da ist ein großer Unterschied im Niveau der Kommunikation, der Themen, die sie interessiert und die anderen Gleichaltrigen können damit überhaupt nichts anfangen. Sie sehen, da sind 20 andere Kinder, die interessieren sich für ganz andere Dinge. Meine Tochter beschäftigte sich früh mit dem Thema Tod, mein Sohn bastelte mit 5 Jahren kleine Modelle der Erde und diskutierte am Frühstückstisch mit seiner Schwester über mögliche Weltuntergangsszenarien. Meine Tochter wünschte sich mit 4 Jahren eine Enzyklopädie über Dinos, allerdings eine Richtige, für Erwachsene. Diese hat sie voller Stolz mit in die Kita genommen und die kleineren Kindern über Carnivoren und Herbivoren aufgeklärt und dass ein T-Rex ein Theropode ist und die heute lebenden Hühner und Strauße seine nächsten Verwandten sind. Das hatte eine Reihe aufgeregter Eltern zur Folge, die sich über das kinderuntaugliche Bildmaterial echauffierten. OK, ein T-Rex hat spitze Zähne und frisst andere Dinos. Im Jurassic Park auch Menschen auf dem Klo. Meine Tochter verstand den Aufruhr nicht. Ich hatte damals noch nicht daran gedacht, dass ihr Interesse mit diesem Thema eventuell etwas untypisch ist. Für mich war das halt normal. Gerade mit dem Kitabesuch änderte sich allerdings etwas bei uns; bei meiner Tochter und bei mir. Sie merkte immer häufiger, dass sie anders ist und hatte immer häufiger den Eindruck, dass mit ihr etwas nicht stimmt . Und das ist das, was die Welt der hochbegabten Kinder ausmacht
I'm an alien - Mama, warum versteht mich keiner?
Meine Tochter hatte einige für sie sehr frustrierende Situationen im Laufe ihrer Kindergartenkarriere. 2 Beispiele sind mir dabei besonders im Gedächtnis geblieben: Als sie 4 Jahre alt war, kam es dann zu einem heftigen Streit mit einem Mädchen, mit dem sie sonst sehr gerne spielte. Dieses behauptete, dass die Figur, mit der sie spielte, ein Pferd sei. Meine Tochter korrigierte sie und erklärte ihr, dass es eine Stute sei, weil sie Pferde bereits sicher in ihrem Geschlecht (Stute, Wallach, Hengst) unterscheiden konnte. Das Mädchen kannte diese Unterschiede aber noch nicht und blieb bei ihrer Feststellung, dass es ein Pferd sei. Das ärgerte meine Tochter sehr und es kam zu einem lautstarken und heftigen Streit zwischen den beiden, den die Erzieherin unterbrach und beide bestrafte, indem sie ihnen ein „Wannenspielverbot“ für diesen Tag erteilte. Meine Tochter war darüber völlig entsetzt. Versetzt man sich in ihre Lage, ist das auch absolut verständlich, denn schließlich hatte meine Tochter ja Recht. Sie wusste, dass das Spielpferd eine Stute war und das andere Mädchen nicht. Also warum wurde sie ebenfalls bestraft?
Ein Jahr später bastelten die Kinder Planeten und setzten sich in einer Projektphase mit dem Sonnensystem auseinander. Meine Tochter erklärte den Kindern voller Stolz, dass Sterne ja ebenfalls Sonnen ferner Sonnensysteme sind. Diese Vorstellung war für den Großteil der Kinder befremdlich. Für sie gab es fundamentale Unterschiede zwischen Sonne, Mond und Sterne. Schließlich singt man doch auch "Laterne, Laterne, Sonne Mond und Sterne" und nicht Sonnen! Als Folge dessen erntete meine Tochter Reaktionen wie „Hä, was?! Sterne sind Sterne und es gibt auch nur eine Sonne. Bist du dumm?“. Als sie dann die Erzieher unsicher fragte, um Bestätigung und Rückhalt der Erwachsenen zu erhalten, winkten diese lediglich ab und sagten, dass das nicht hier hin gehöre. Eine fast identische Geschichte erzählte mir später tatsächlich eine zu diesem Zeitpunkt 14 Jährige Hochbegabte. Sie berichtete, dass dies eine sehr einschneidende Schlüsselsituation für sie war und sie daher keine guten Erinnerungen an ihre Kindergartenzeit mehr hätte.

Mit angezogener Handbremse über die Autobahn
Probleme entstehen also insbesondere dann, wenn das System Schule oder Kindergarten sich am Durchschnitts-IQ orientiert und das Umfeld dieser Kinder (Lehrer, Erzieher, Großeltern, Tanten, Onkel, Nachbarn….) permanent signalisiert, dass die Themen, mit denen sich hochbegabte Kinder beschäftigen nicht altersgerecht oder unpassend/unwichtig sind. Hochbegabte Kinder fahren dann zurück und passen sich an. Sie können dann ihre Stärken überhaupt nicht ausleben. Daniela Heiser zieht dazu einen ganz treffenden Vergleich mit einem Porschefahrer: „ Sie fahren mit ihrem Porsche auf der deutschen Autobahn mit permanent angezogener Handbremse. Ein Porschefahrer ist auf Dauer nicht glücklich, wenn er die ganze Zeit mit 80km/h hinter LKWs hinterher tuckern muss oder mal mit 120km/h auf der mittleren Fahrbahn. Ein Porschefahrer muss gelegentlich den Blinker links setzen, auf die linke Spur fahren, um dann mit 180 oder 200 an allen anderen vorbeifahren zu können. Dann kann er auch eine Baustelle mit 80 oder einen Abschnitt mit Lärmschutz mit 120 hinnehmen, wenn er weiß, wann er wieder Gas geben darf.“
Heißt das, dass kognitiv hochbegabte Kinder sich nicht an Regeln halten müssen? Nein! Daniela Heiser weiter: „ Sie müssen sich an unsere deutschen Verkehrsregeln halten und auch mal das ständige Wiederholen in Schule und Kindergarten in Kauf nehmen, aber sie müssen auch wissen: Wann darf ich wieder Gas geben?“
Gesichter der Hochbegabung
Was macht das Anders-Sein mit diesen Kindern?
Viele von ihnen passen sich in der Öffentlichkeit an und schlucken alles herunter. Kommen diese Kinder dann nach Hause, passiert es häufig, dass sie dort dann explodieren und ihrem Frust Luft machen. Im häuslichen Umfeld fühlen sie sich sicher genug dazu ihre aufgestauten Emotionen raus zulassen. Eltern haben dann mit tasmanischen Teufeln zu kämpfen und werden vom geballten Frust und der Wut ihrer Kinder völlig überfordert. So geht es mir häufig mit meiner Tochter. Sie entspricht in ihrem Verhalten einem typischen hochbegabten Mädchen. Im Kindergarten flog sie stets unter dem Radar und war völlig unauffällig. Sie war nahezu unscheinbar. In der Schule zeigten sich dann zunehmende Tendenzen zum Underachievement hin. Lediglich Zuhause verwandelte (und verwandelt sich heute immernoch) in einen wilden, feuerspeienden Drachen und bringt dadurch ihre pure Verzweiflung über einen anstrengenden Tag zum Ausdruck.
Anders herum gibt es allerdings auch die Kinder, bei denen es genau anders herum passiert: sie sind im Kindergarten oder Schule extrem auffällig, extrem wild und laut, extrem anstrengend, zeigen häufig auch Merkmale in Richtung AD(H)S. Sind sie Zuhause und stimmt dort das Angebot und das Setting, sind sie dort ganz andere Menschen.
Mein Sohn gehört zu letzteren Kindern. Gerade im Kindergarten gab es viele Situationen, in denen die Erzieher an ihre Grenzen gestoßen sind. Es gab viele Gespräche, Achselzucken, ratlose Gesichter. Scheinbar nichts funktionierte, was doch sonst bei allen andern Kindern funktionierte. Immer häufiger fanden mein Sohn und ich uns dann in ein und derselben Ecke wieder: Berufstätige Mutter, alleinerziehend, überfordert mit ihrem verhaltensauffälligen, emotional defizitären Sohn, Scheidungskind, vermutlich mit ADHS ausgestattet. In nicht wenigen Gesprächen musste ich mich für das Verhalten meines Sohnes entschuldigen, versuchte stets für Verständnis zu werben und erklärte warum ich keine Hilfe vom Jugendamt oder Erziehungsberatungsstellen benötigte, weil das Problem ein anderes sei. Ich bin froh, dass mir bisher zwar Gehör geschenkt wurde, leider kann ich dabei meine Situation nicht ändern. "Ja, wir können das absolut verstehen. Das, was dein Sohn braucht, ist eine individuelle und flexible Lösung. Aber am Ende des Tages muss er einfach lernen sich in das System zu fügen." Das Totschlag-Argument für alles. Ist dieser Ausspruch gefallen, befindet man sich meistens am Ende der Diskussion in einer Sackgasse. Das ist für mich extrem frustrierend und mittlerweile kann ich diesen Satz einfach nicht mehr hören.
Das Einzige, was ich von nun an tun kann, ist hinter meinem Sohn und meiner Tochter zu stehen.
Komme was da wolle.
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