· 

Mittwochmorgen, 7:42

In der Besteckschublade sind keine Löffel mehr

Heute ist nicht mein Tag.

Das kennt ja jeder. Es gibt eigentlich Tage, an denen man am besten einfach besser im Bett geblieben wäre. Mein morgentlicher Alltag ist ja ohnehin immer sehr vollgepackt und gespickt mit lauter Fallen, Stolpersteinen und Situationen, die potenzielle Vulkanausbrüche meines Sohnes hervorrufen können. Seine Hochreaktivität scheint nämlich ein miesgelaunter Morgenmuffel zu sein, den man mit allerlei lapidaren Dingen zur absoluten Weißglut bis hin zu einem tobenden Ausbruch treiben kann. Ein grollender und Lava-spuckender kleiner Menschen-Vulkan ist zu jeder Zeit absolut unangenehm. Passiert das allerdings bereits um 6:15 das zweite Mal am Morgen, noch vor dem ersten Kaffee, dann möchte man am liebsten den Job als Mama kündigen.

 

 

Die Löffel-Theorie

Warum ist das aber so bei uns? Unendliche Male ging mir diese Frage durch den Kopf; und dann hörte ich von der Löffel-Theorie (spoon theory). Sie stammt von der amerikanischen Bloggerin Christine Miserandino. Sie erklärt wie es ist, mit einer chronischen Krankheit oder einem nicht-sichtbarem Handicap den Alltag meistern zu müssen.

 

Miserandino zieht dazu Löffel heran. Jeder Löffel steht für eine Portion an körperlicher und geistiger/emotionaler Energie. Gesunde Menschen wachen morgens mit einem nahezu unerschöpflichen Vorrat an Löffeln auf. Sie sind voller Energie. Sie können aufstehen, sich anziehen, Zähneputzen, frühstücken, ihre Sachen packen, zur Arbeit fahren und ihren Alltag bewältigen, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, ob ihr Löffelvorrat dazu ausreicht. Sie verbrauchen in der Regel auch nur dann einen oder ein paar Löffel, wenn sie eine Tätigkeit ausführen müssen, die sie stark belastet oder besonders herausfordert (eine Prüfung bestehen, ein schwieriges Personalgespräch bewältigen, einen Termin beim Zahnarzt wahrnehmen…). Am Ende des Tages ist ihr Löffelvorrat zwar fühlbar geschrumpft, aber am nächsten Tag stehen sie auf und es stehen wieder jede Menge Energieportionen bereit.

 

Chronisch kranke Menschen oder wie im Fall meines Sohnes hochreaktive Menschen starten ihren Tag mit einer festen Zahl an Löffeln; ihre Energievorräte sind stark budgetiert. Zudem kosten bereits scheinbar leichte Tätigkeiten einen Löffel an Energie. Bei meinem Sohn sieht das dann häufig so aus: Geweckt werden = 1 Löffel, Aufstehen = 1 Löffel, Anziehen = 2 Löffel, Zähneputzen = 2 Löffel, in die Küche gehen und anziehen = 1 Löffel, Frühstücken und dabei nicht ablenken lassen = 1 Löffel, Schultasche packen = 1 Löffel, Schuhe und Jacke anziehen = 1 Löffel (wenn die Schuhe mal wieder nicht auffindbar sind auch mal 2-3 Löffel), zum Schulbus gehen = 1 Löffel. Wenn dann im Bus auf SEINEM Platz ein FALSCHES Sitzkissen liegt, dann sind schon keine Löffel mehr da, obwohl der Tag noch gar nicht richtig begonnen hat. Es folgt ein Vulkanausbruch unvorstellbaren Ausmaßes. Der weitere Verlauf des Schultages wird für alle Beteiligten dann vermutlich auch nicht sehr angenehm. Sein Tag ist dann komplett gelaufen. Meiner meistens auch…

 

Doch was bringt uns jetzt diese Theorie? Sie hilft mir erst einmal eine Erklärung für sein scheinbar unangebrachtes und nicht nachvollziehbares Verhalten zu finden. Es geht mir nicht darum eine Entschuldigung für sein Verhalten zu finden, sondern einen Weg, Mitgefühl und Verständnis für ihn zu empfinden. Zudem versuche ich Dinge zu identifizieren, die ihm Energie kosten. So kann ich versuchen diese zu vermeiden oder Alternativen zu finden, um Löffel zu sparen, wenn ich absehen kann, dass ein Tag besonders anstrengend wird. Ich plane also seinen Energievorrat des Tages im Voraus, so als ob ich ihm eine Tasche für einen bevorstehenden Ausflug packen würde: ein paar Brote, ein Apfel, genug Wasser, vielleicht ein Regenschirm, wenn es regnen soll. 

Und was auch noch wichtig ist: ich rede mit meinem Sohn darüber. Mittlerweile sind sowohl er (6 Jahre) als auch meine Tochter (9 Jahre) mit der Löffel-Theorie vertraut und sie beginnen selber zu überlegen, ob ihre noch vorhandenen Löffel ausreichen, oder ob sie eine Pause einlegen müssen. Das ist wirklich sehr hilfreich und fördert ihr Selbstverständnis. Zuletzt nutze ich diese Theorie um Außenstehende aufzuklären und dabei Verständnis zu wecken.

 

 

Mittwochmorgen

Die Kinder erreichen ein neues Trödel-Hoch. Und das, obwohl mein Sohn von alleine aufsteht, als ich die Zimmertür öffne und sich sogar etwas aktiv am Anziehprozess beteiligt.

 

Doch dann werden die Bewegungen langsamer und langsamer. Alles ist interessanter. Statt das Nutellabrot zu essen, steht meine Tochter tanzend in der Küche, mein Sohn findet mal wieder keine Schuhe. Spontan fällt ihm ein, dass er jetzt ganz dringend und unbedingt noch Gewürzgurken braucht. Ich komme in Stress, weil ich keine passende Dose finde, die verhindert, dass das Gurkenwasser in den Tornister läuft. Der Kaffee ist fast kalt und noch nicht getrunken. Ich nenne die Kinder ab sofort den "Trödeltrupp".

(Update: Die Gurken wurden links liegen gelassen und aus der Schule unangetastet wieder mitgebracht.)

 

 

Schnell ins Auto! Auf dem Weg dahin wollen sich die Hunde auch noch einmal kurz beißen. Illegale Hundekämpfe kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen!

 

Wir schaffen es noch pünktlich zum Bus. Die Laune der Kinder ist eigentlich gut. Solange, bis ich die Drohne im Tornister meines Sohnes entdecke und sage, dass er die wirklich nicht mitnehmen kann.

  

 

Booom!

 

 

Geschrei, Jason-like[1] wütet der Junge und rennt weg. Die ganze Auffahrt bis ins Haus zurück. Ich rufe ihm hinterher und versuche ihn dazu zu überzeugen doch zur Haltestelle zu gehen. Keine Chance.

 

 

Ich nehme die Schultasche und stelle mich an die Bushaltestelle. Der Nachbarsjunge und seine Mutter warten auch schon. Der Junge fragt, was mein Sohn denn hat und warum er weggelaufen ist. Die Autotür geht auf, meine Tochter steigt nun auch aus, begleitet von ohrenbetäubendem Gekeife "Heeeyyyyyy! Komm sofooooort HER! Du musst zum BUSSSS!". Seitenblick von der anderen wartenden Mutter mit hochgezogen Augenbrauen. Ich schließe die Augen und atme.

 

 

Beide Kinder sind weg. Ich höre Geschrei vom Hof.

 

Der Bus kommt. Keines meiner Kinder da. Ich sage der Busfahrerin sie solle fahren und setze mich wieder in mein Auto. Die Fahrertür ist geöffnet und ich lasse die Beine seitlich heraus hängen. Jetzt trinke ich meinen kalten Kaffee und warte darauf, dass meine laute, wilde Brut zurück zum Auto kommt.In der Zeit ziehe ich mir 5 Mückenstiche an einem Bein zu, die wie Hölle jucken. Ich höre, dass die Kinder zurückkommen. Mein Sohn hat seinen finsteren Todesblick aufgelegt, setzt sich auf meinen Schoß und knurrt.

 

Ich versuche mich mit ihm zu vertragen. Auch hier: Keine Chance.

 

Also fahren wir zur Schule.

 

 

Ich fahre vor und öffne die hintere Tür. Ich bitte ihn auszusteigen. Er steht auf und setzt sich in die andere Ecke des Autos und knurrt weiter (ich fahre einen Bulli. Da ist die andere Ecke des Autos weit entfernt). "Schatz, komm doch bitte.". “NEIN! Niemals! Blöde Mama! Ich gehe nicht in die dumme Schule und steige nicht aus!“, schreit er mich mit rotem Kopf an. Ich spüre Verzweiflung in mir hochsteigen.

 

Ein Polizeiauto fährt an uns vorbei und hält. Der Polizist steigt aus und kommt auf mich zu. Mir wird heiß und kalt. Scheiße! Ich stehe im absoluten Halteverbot!

 

Jetzt werde ich zurecht gefragt, warum ich hier stehe. Ich entschuldige mich und mache mir gar keine Mühe eine Rechtfertigung hervorzubringen. Er entgegnet, ich würde als Mutter von meinen Kindern ja auch erwarten sich an Regeln zu halten (Haha, sehr witzig!) dann müsste ich als Erwachsene das auch. Ich überlege kurz, ob ich ihn fragen soll, ob er mit hochreaktiven Kindern und der Gauß’schen Normalverteilung vertraut ist, halte das aber für nicht klug in meiner derzeitigen Position. Der gute Mensch scheint aber einen weitaus besseren Tagesstart gehabt zu haben, als ich gerade, also bleibt es bei einer Verwarnung.

 

 

Der Junge steigt dann doch aus. Er scheint nun ein minimal schlechtes Gewissen zu haben und geht schließlich bösen Blickes und mit einem knurrenden "Tschuldigung, Mama." davon.

 

 

 

 

Löffel alle.



[1] Jason ist ein zehnjähriger Autist im Film „Wochenendrebellen“ aus dem Jahr 2023. Wirklich ein großartiger Film, der einen Einblick in das Leben einer Familie mit einem neurodivergenten Kind gibt. Jason und seine Familie gibt es übrigens wirklich. Der Film basiert auf wahren Gegebenheiten. https://wochenendrebell.de/

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0