
5:50 – Der Wecker klingelt. Ich bin müde, aber bei Weiten nicht so müde wie die letzten Tage und Wochen. Nach etwas hin und her Rollen im Bett gelingt es mir tatsächlich um 10 nach 6 aus dem Bett zu steigen. Ich stehe kurz darauf in der Küche mit einem Kaffee in der Hand und wundere mich, dass ich mich nicht wie von einem LKW überrollt fühle und tatsächlich 5 Minuten für mich habe, bevor ich mich in den morgendlichen Kampf des Kinder-Weckens stürzen werde. Letzte Woche sah das noch ganz anders aus:
Schlaftrunken taumele ich in das Bad. Ich bleibe in der Tür stehen und bemühe mich die Augen weiter zu öffnen. Irgendetwas klebt unter meiner Fußsohle. Eine Feder?
Ich scanne das Badezimmer und entdecke weitere Federn, ja eine ganze Federspur, die unter den Badezimmerschrank führt. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag.
Gestern Abend wollte ich etwas Ruhe in der Badewanne finden und war schon mehr am Dösen, als im Hier und Jetzt, als es neben meinem Kopf knurrte. Da saß doch tatsächlich die freche Familienkatze neben mir auf dem Badewannenrand mit einem Vogel im Maul. „Du willst doch jetzt nicht ernsthaft deine Beute hier verspeisen! Geh raus damit!“, fauchte ich. Der feline Hannibal Lector warf mir einen verachtenden Blick zu und zog von dannen. Jetzt weiß ich auch, wo das Dinner seinen finalen Höhepunkt erreicht hat.
Also werde ich zum Tatortreiniger und mache ich mich daran die Sauerei zu beseitigen. Viel ist von Tweety nicht mehr übrig geblieben. Ich spüre wie mein Stresslevel steigt. Die Hunde müssen gefüttert werden, ich muss mich anziehen, die Kinder müssen geweckt werden und sich anziehen, wir müssen frühstücken und die Schultasche packen.
Und die Uhr tickt erbarmungslos weiter.
Als ich die Zimmertür meines Sohnes öffne, trifft mich der Schlag.
Buchstäblich alles, einfach alles ist in homogener Mischung auf dem Fußboden verteilt: Legosteine, Stofftiere, Bücher, Matchboxautos, ein Kartenspiel, der halbe Inhalt seines Kleiderschrankes und eine Packung Knäckebrot (scheinbar hatte er letzte Nacht wieder eine seiner beinahe Schlafwandel-Phasen gehabt und dabei die Küchenschränke geplündert). Ich atme tief ein. Atmen ist gut. Ich lege ihm die Sachen auf sein Bett, weise ihn an sich anzuziehen und lasse das Chaos schnell hinter mir, bevor die Wut in mir zu kochen beginnt.
Ich bewege mich gefühlt wie Flash (in Realität vermutlich eher wie Sid, das Faultier aus Ice Age) und es gelingt mir die beiden Frösche kurze Zeit später im mittlerweile gesäuberten Badezimmer zu versammeln. Meine Tochter fragt mich, was da in Tüchern auf dem Waschbeckenrand liegt: „Mama, was ist das?“ ich merke ihr an, dass sie angewidert ist und antworte unsicher: „Das war ein Vogel.“
Ich habe Angst vor einem emotionalen Ausbruch meines kleinen Gutmenschen.
Sie erwidert interessiert: „Was für ein Vogel?“
„Keine Ahnung. Anhand der Füße kann ich das nicht mehr erkennen.“, platzt es taktlos aus mir raus.
Sie starrt mich mit ihren großen grünen Augen an: “Es sind nur noch Füße übrig geblieben?“. Ich schlucke und habe Angst davor, was als nächstes passiert: „Jaa?“
„Gut. Dann hat der Tod wenigstens einen Sinn gehabt“. Sie nickt gefällig und zieht sich weiter an. Immer noch etwas in Angststarre verfallen atme ich durch und drücke den letzten Rest Zahnpasta auf meine Zahnbürste. Im Radio läuft ein Interview mit jungen Leuten in der Fußgängerzone. Es war Europawahl mit verheerendem Ergebnis. Es wird gefragt, warum so viele junge Leute der AfD ihre Stimme gegeben haben. Das würde ich auch gerne wissen, weil ich es in keinster Weise verstehen kann und lausche angestrengt. Das wird aber durch meinen Sohn zunehmend erschwert, weil er dazwischen redet und sein Mitteilungsbedürfnis unbedingt befriedigen möchte. „Schatz, warte bitte einen Moment. Lass mich das eben zu Ende hören. Dann bist du dran.“, bitte ich ihn. Als ob er mich gar nicht gehört hätte, trötet er in einer Tour weiter. Etwas deutlicher bitte ich ihn zu warten.
Booom!
Seine dunklen Augen blitzen mich böse an, die dichten Augenbrauen sind zusammengezogen. Wütend knallt er den Toilettendeckel zu, um sich endlich Aufmerksamkeit zu verschaffen, weil er nicht mehr warten kann. Der Bericht im Radio ist zu Ende.
Atmen ist gut – besonders, wenn das Chaos um dich herum tobt.

Zeitfresser-Monster: Wenn jede Minute zählt, aber keine Minute genutzt wird.
In den darauffolgenden Minuten schlagen die fiesen Zeitfresser-Monster wieder erbarmungslos zu. Mein Sohn wird bei jeder Bewegung zusehend langsamer. Immer wieder treibe ich ihn an und erinnere ihn daran, was er eigentlich machen soll: „Zieh dir deine Socken an… auch den Linken…. Du hast vergessen dir Zahnpasta auf die Zahnbürste zu machen…..Wo hast du denn schon wieder deine Schuhe hingestellt….…Bitte beiß in dein Brot!“
Dieser Junge ist einfach unfassbar! Damit das Frühstücken problemlos funktionieren kann, müsste man es in einem Reinraum stattfinden lassen, in dem es keinerlei Reize und Ablenkungen geben kann. Selbst wenn das Brot direkt vor ihm auf dem Teller liegt, findet er irgendetwas, was seine Aufmerksamkeit stattdessen fesselt und er vergisst, was er eigentlich tun wollte. "Welches Brot?"
Es endet damit, dass wir gerade rechtzeitig zum Schulbus kommen, er aber immer noch sein Brot in der Hand hält und dafür in einer Tour fröhlich blubbert. Der Bus fährt vor, er stopft sich den Rest seines Frühstücks in den Mund und sieht aus wie ein Goldhamster, als er einsteigt. Was darauf folgt, war mir schon in der Küche klar: Die Busfahrerin begrüßt uns mit schimpfenden Worten: „Ich habe es schon einmal gesagt! Im Bus wir nicht gegessen!“. Warum mich das so tierisch ärgert, kann ich gar nicht genau sagen, aber ich spüre Wut in meinem Bauch und steige ins Auto, um meine Tochter nun zur Schule zu fahren. Mein Ärger entlädt sich dann dort: „Warum müsst ihr eigentlich immer so sehr trödeln?! Das macht mich wahnsinnig! Am liebsten würde ich mir einen elektrischen Viehtreiber holen und euch jedes Mal einen elektrischen Schlag geben, wenn ihr einfach nicht reagiert.“
Meine 9 jährige Tochter schaut mich entsetzt an: “Das darfst du nicht! Wir haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung!“. Zugegeben, überrascht bin ich schon das zu hören und erwische mich beim Schmunzeln (natürlich würde ich meinen Kindern niemals Stromschläge verpassen 😉).
„Und warum funktioniert meine gewaltfreie Erziehung bei euch beiden nicht?“, frage ich sie stichelnd und erhalte darauf meine Lieblingsantwort:
„Keine Ahnung.“
Angekommen an der Schule bin ich schon wieder entspannt. Dann rutscht meine Tochter plötzlich ganz tief in ihren Autositz. „Mama?“, flüstert sie und schaut mich vorsichtig an.
Ich schließe die Augen. „Was?“
„Ich habe meinen Sportbeutel zuhause vergessen…“
Boooom! „Das ist nicht dein Ernst!“ Auf dem Weg wieder nach Hause und zurück zur Schule atme ich tief ein und puste beim Ausatmen gegen meine Lippen. Ich erinnere mich daran, dass man durch Atemtechniken den Vagusnerv stimulieren kann, um sich vegetativ, also reflexgesteuert, zu beruhigen. Immerhin haben wir noch genug Zeit. Als ich gerade das Gefühl habe, dass der Vagus mir zur Hilfe eilt, sehe ich eine schnelle Bewegung aus dem Augenwinkel. Als ich realisiere, was es ist, macht es auch schon „Patsch!“
Kacke!
„Mama! Hast du den Vogel jetzt erwischt!“ Verdammt ja, habe ich. Meine Tochter neben mir ist wütend und zetert. „Wenn du deinen Sportbeutel nicht vergessen hättest, wäre das jetzt nicht passiert!“ Ich beiße mir auf die Lippen und bin froh, dass mir das nur als Gedanke durch den Kopf schießt, ich es aber nicht ausspreche. Es tut mir wirklich Leid um das Vögelchen und ich versuche meine Tochter auf dem restlichen Weg zu beruhigen, was mir letzten Endes auch gelingt.
„Ich wünsche dir einen schönen Tag, mein Schatz.“, rufe ich ihr zu, als sie aus dem Auto steigt. „Ich dir auch Mama!“ Sie schließt die Autotür und mir fällt gerade siedend heiß ein, dass ich die Vogelbeine auf dem Waschbeckenrand vergessen habe.
Wieder zurück in der Gegenwart. Jetzt stehe ich in der Küche und muss tatsächlich darüber schmunzeln und hoffe, dass der heutige Tag stressfreier wird. Immerhin ist er ja schon viel besser gestartet.
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