
Gestern Nacht klingelt mein Telefon. Es ist ein paar Minuten vor Mitternacht. Mein Sohn ruft mich mit seiner neuen Smartwatch an. Er und seine Schwester sind bei ihrer Oma für ein paar Tage zu Besuch und das Heimweh scheint ihm dieses Mal mehr zuzusetzen, als es das üblicherweise tut.
Ich atme tief durch und nehme das Handy in die Hand. "Ja, mein Schatz? Es ist gleich Mitternacht. Was ist los? Bist du nicht müde?"
Ich höre meinen Sohn am anderen Ende. Er schnieft seine Nase und er hört sich weinerlich an: "Mami, ich kann nicht träumen!". Ich bin verwirrt. "Was meinst du damit, dass du nicht träumen kannst?", will ich wissen.
"Na, alle Menschen träumen nachts. Aber ich nie! Ich habe einfach keine Träume!".
Ich höre die Verzweiflung in seiner Stimme, stelle mir vor, wie traurig seine großen braunen Augen jetzt aussehen mussten und lege die Stirn in Falten. "Bestimmt kannst du auch träumen. Vielleicht erinnerst du dich nur am nächsten Morgen nicht daran, weil du doch sehr tief schläfst.", versuche ich ihn aufzumuntern.
"NEIN!", ruft er laut, "ich kann einfach nicht träumen und das finde ich so gemein! Oma sagte, dass es Apps gibt, die zeigen, wie gut man schläft. Kannst du mir die auf meine Uhr machen, damit ich meinen Schlaf sehen kann?". Ich verspreche ihm mich darum zu kümmern, wenn sie wieder zuhause sind. Das scheint ihn immerhin genug zu beruhigen und er wünscht mir eine Gute Nacht, bevor er auflegt. "Ich liebe dich!"
Kinder. Ich frage mich, wie sie auf solche Dinge kommen und bin zugleich verwundert, wie ernsthaft und real dieses Problem nun in dieser Situation gewesen sein muss. Das bringt mich auf die Idee eine Geschichte für meinen Sohn zu schreiben. Er liebt Geschichten, aber es gibt ein Problem:
Mein Sohn ist hochbegabt und hat LRS
Ich habe vor Kurzem herausgefunden, dass er eine Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) hat. Zusammen mit seiner Hochbegabung und seinem explosiven Temperament ist dies eine extrem herausfordernde Kombination. Ich hege den Verdacht schon länger, dass wir hier ein weiteres Mal in das Neurodivergenz-Töpfchen gegriffen haben. Als ich meine Befürchtung mit seiner Klassenlehrerin auf dem letzten Elternsprechtag teilte, war sie sehr verwundert. Ihr waren seine Schwierigkeiten insbesondere beim Lesen noch nicht so ins Auge gefallen wie mir. Zudem irritierte sie der Gedanke von gleichzeitig auftretender LRS und Hochbegabung sehr. "Aber er ist doch so intelligent.". Ja. Genau das ist das Problem. Mein Sohn war mittlerweile so gut darin seine LRS durch seine Hochbegabung zu maskieren. Ich beobachtete ihn beim Bearbeiten eines Lesetraining-Arbeitsblattes. Es befanden sich Bilder auf dem DIN A4-Blatt mit jeweils 3 Begriffen. Ziel war es das korrekte Wort dem jeweiligen Bild zuzuordnen. Das tat mein Sohn. Beinahe fehlerfrei und in hoher Geschwindigkeit, aber ohne dabei ein einziges Wort zu lesen. Wie war das möglich?
Mein Sohn löste die Leseaufgaben mit Kombinatorik und Logik. Und darin war er extrem gut und erfolgreich. So scannte er die Auswahl an Wörtern und wählte schnell das Wort mit dem passenden Anfangsbauchstaben zum gezeigten Bild aus: T für Tannenbaum, S für Schneemann, W für Weihnachtsmann. Gab es mehrere Wörter mit dem gleichen Anfangsbuchstaben, so scannte er die letzten Buchstaben und wählte danach das passende Wort aus. Clever! Dieser kleine Teufelskerl!
Leider waren die angegebenen Wörter in den allermeisten Fällen so unterschiedlich, dass er mit dieser Strategie mühelos alle Aufgaben lösen konnte. Lediglich bei einem Bild gab es 3 Begriffe, die sich insgesamt sehr ähnlich waren und so entschied er sich für ein falsches Wort.
Im Laufe des 2. Schuljahres hatte er so einige Strategien entwickelt, die ihm dabei halfen Aufgaben zu lösen, ohne dabei lesen zu müssen. Dementsprechend bekam das in der Schule niemand mit, wie schlecht er tatsächlich lesen konnte und er umging die für ihn so wichtigen Übungen erfolgreich. Mittlerweile war ihm aber sehr wohl bewusst, dass Lesen Schwierigkeiten für ihn bedeuteten. Sein Selbstwertgefühl war am Boden. Er fühlte sich zunehmend dumm und sein besonderes Temperament der Hochreaktivität ließen seine Frustrationstoleranz auf ein beinahe nicht existentes Minimum schrumpfen. Beim kleinsten Fehler flogen Dinge durch die Gegend. Die Zahl der zerbrochenen Bleistifte nähert sich dem Unendlichen. Sein Kopf produzierte Fehlermeldungen am laufenden Band: er war in so vielen Bereichen doch außergewöhnlich gut, sein Kopf so schnell und voller sprudelnder Ideen und Gedanken. Aber all das konnte er nicht umsetzen. Weder beim Lesen, noch beim Schreiben. Die Kluft war einfach zu groß. Er schaffte es beim Schreiben auf einen Prozentrang von unter 9, was bedeutet, dass gute 91% der Kinder in seinem Alter bessere Leistungen erzielen als er. Sein Intelligenztest zeigt allerdings das komplett umgedrehte Bild: da gehört er zu den oberen 3%. Und das machte ihm nun sehr zu schaffen.
Also überlegte ich, wie man mit ihm üben konnte. Meine Recherche nach geeigneten und für ihn interessanten Büchern und Geschichten ermüdete mich schnell. Entweder waren die Texte viel zu leicht, also völlig ungeeignet für ihn, es waren Bilder in die Texte eingebaut, was ihm wiederum geholfen hätte seine Ausweichstrategien zu fahren oder es waren Texte mit ungeeigneten Schriftarten.

Ungeeignete Schriftarten?
Bei meiner Recherche fand ich heraus, dass es spezielle Schriftarten gibt, die entwickelt wurden, um das Lesen für Menschen mit Legasthenie zu erleichtern. Manche Menschen mit Legasthenie oder LRS haben nämlich Schwierigkeiten, die Richtung von Buchstaben zu unterscheiden. Der Klassiker ist, dass das d mit dem b vertauscht wird. Viele Schriftarten, inklusive die Fibelschrift, die in den Texten von Grundschulmaterial und Kinderbüchern zum Einsatz kommt, haben nämlich Buchstaben, die durch Spiegelung in einen anderen Buchstaben überführt werden können. Dass kann bei Menschen mit LRS und Legasthenie dann problematisch sein, weil ihnen die Richtungsunterscheidung schwer fällt oder es ihnen vorkommen kann, als ob die Buchstaben nicht an ihrem Platz bleiben. Sie springen vor ihren Augen dann hin und her. Daher wurden spezielle Schriftarten entwickelt, um der abweichenden Wahrnehmung dieser Menschen entgegen zu kommen und Text für sie leserlicher zu machen. Open Dyslexic beispielweise zeichnet sich durch eine deutliche und schwere Grundlinie der Buchstaben aus - sie sind unten dicker. Jeder Buchstabe erhält so eine eindeutige Form. Verwechseln und im Kopf Verdrehen oder Spiegeln sind dann minimiert.
Also stand ich da mit der Erkenntnis, dass es vermutlich kein passendes Material auf dem Markt für meine Sohn gibt, um ihn bei seinem Problem zu unterstützen. Kann das wirklich wahr sein?
In einem kreativen Geistesblitz kam mir dann eine Idee: dann mache ich es halt selber!
Also habe ich mir die frei verfügbare Schriftart Open Dyslexic Alta heruntergeladen. Diese enthält nämlich ein Fibel-a. Und dann fing ich an eine Geschichte in geeigneter Schrift für meinen Sohn zu schreiben unter Berücksichtigung seiner persönlichen Interessen.

Der Traum vom Weltraum
Eines Tages war ein Junge sehr traurig. Er konnte nachts nicht träumen und erzählte seiner Mama und seiner Schwester davon.
"Ich bin so traurig, weil ich nicht träumen kann," sagte er mit Tränen in den Augen. Seine Mama und Schwester trösteten ihn und versicherten ihm, dass er bald wieder träumen würde.
Am Abend konnte der Junge nicht einschlafen. Er saß in seinem Zimmer an seinem Schreibtisch und baute ein LEGO-Fahrzeug. Das Fahrzeug sah aus wie ein Mähdrescher, hatte aber Raketenantriebe und viele weitere Funktionen. Es hatte große, robuste Räder, die für jedes Gelände geeignet waren, und an den Seiten befanden sich ausklappbare Flügel für den Flugmodus. Auf dem Dach war ein drehbarer Turm mit einem Laserstrahl, und im Inneren gab es ein Cockpit mit Platz für zwei Personen.
Plötzlich begann das Fahrzeug zu leuchten und zu vibrieren. Bevor er es sich versah, wurde er in das Fahrzeug hineingezogen und fand sich in einer Minecraft-Welt wieder!
"Wow, das ist unglaublich!" rief der Junge aus. Er sah sich um und entdeckte seine Schwester, die ebenfalls in der Minecraft-Welt war. "Hey, was machst du hier?" fragte er überrascht.
"Ich weiß es auch nicht, aber es ist aufregend!" antwortete sie ihm. "Lass uns eine Rakete bauen und ins Weltall fliegen!"
Gemeinsam sammelten sie die notwendigen Materialien und bauten eine beeindruckende Rakete. Der Junge nutzte seine Redstone-Fähigkeiten, um den Antrieb der Rakete zu bauen. Er installierte komplexe Redstone-Schaltungen und Raketenantriebe, die die Rakete in den Himmel schießen würden. Seine Schwester kümmerte sich um den Bau des Cockpits und sorgte dafür, dass es große Fenster hatte, durch die sie die Sterne beobachten konnten.
Sie stiegen ein und starteten in den Himmel. Die Rakete flog höher und höher, bis sie schließlich das Weltall erreichten. Sie sahen die Sterne und Planeten um sich herum und waren fasziniert von der Schönheit des Universums.
Nach einer Weile landeten sie auf einem fernen Planeten. Der Planet war voller seltsamer Pflanzen und Kreaturen. "Wie sollen wir wieder nach Hause kommen?" fragte er seine Schwester besorgt.
In diesem Moment erschien eine bekannte Gestalt vor ihnen. Es war Stephen Hawking, aber er war nicht im Rollstuhl. Er konnte laufen und sprechen, ohne einen Roboter zu benötigen. "Willkommen auf diesem fernen Planeten," sagte er mit einem freundlichen Lächeln. "Findet ihr das Universum nicht wunderschön?"
Die Geschwister waren aufgeregt, aber auch traurig, weil sie ihre Mama vermissten. "Ja, es ist wunderschön," antwortete die Schwester des Jungen, "aber wir vermissen unsere Mama und möchten nach Hause zurückkehren."
Stephen Hawking verstand ihre Gefühle und erklärte ihnen, wie sie die Zeitmaschine benutzen konnten, die er gebaut hatte. "Mit dieser Maschine könnt ihr in der Zeit zurückreisen und nach Hause gelangen," sagte er.
Die Kinder folgten seinen Anweisungen und aktivierten die Maschine. Plötzlich wurden sie von einem hellen Licht umhüllt. Sie hörten Stephen Hawkings Stimme:
"Erinnert euch immer daran, nach den Sternen zu greifen und nicht auf eure Füße zu schauen. Habt keine Angst, neugierig zu sein und zu träumen."*
Der Junge wachte auf und stellte fest, dass er mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen war, während er sein LEGO-Fahrzeug baute. Seine Mama stand neben ihm und lächelte ihn an. "Siehst du, du kannst wohl träumen," sagte sie liebevoll.
Er lächelte zurück und fühlte sich glücklich.
Er wusste, dass er immer träumen konnte, egal ob im Schlaf oder in seiner Fantasie.

* Eine Variation eines bekannten Zitats von Stephen Hawking aus einer Rede, die er im Jahr 2015 anlässlich seines 73. Geburtstags hielt.
Der genaue Wortlaut von Hawking lautet:
"Erinnert euch, zu den Sternen zu schauen und nicht runter zu euren Füßen. Versucht, den Sinn zu verstehen, von dem was ihr seht, und fragt euch, wie das Universum existieren kann. Seid neugierig, und, egal wie schwierig das Leben aussehen mag, es gibt immer etwas, das ihr tun und wobei ihr erfolgreich sein könnt. Wichtig ist, dass ihr einfach nicht aufgebt."
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