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Hochbegabung - Fluch oder Segen? Teil II

In meinem schon etwas zurückliegenden Blogbeitrag habe ich mir Gedanken über das Wort Hochbegabung gemacht und mich gefragt, warum es so problematisch ist und so hoch emotionale Reaktionen hervorruft.

Jetzt, Jahre später, kann ich es tatsächlich noch immer nicht ganz verstehen.

 

Gedanken reloaded

 

Als ich damals herausgefunden habe, dass meine Kinder hochbegabt und hochreaktiv sind, habe ich mir wie fast alle anderen Eltern auch die Frage gestellt, ob ich es ihnen sagen darf, ob wir offen darüber reden dürfen, ob wir es wirklich zum Thema unseres Alltags machen können. Viele Gedanken gingen da durch meinen Kopf: Versteht mein Kind, was das bedeutet? Wird mein Kind dann überheblich und bildet sich darauf etwas ein? Prahlt es damit vor anderen oder verletzt es sie? Was denken andere, wenn mein Kind darüber redet? Was ist, wenn es einen Stempel bekommt? Was sagt meine Familie dazu? Wie reagieren die Lehrer? Halten mich alle dann für eine Helikopter- oder Rasenmäher-Mama? Nutzt mein Kind diese Erkenntnis dann irgendwann aus und manipuliert es mich? Meine Gedanken und Fragen überschlugen sich immer weiter.

 

Beide Kinder waren damals 6, als ich die Ergebnisse des IQ-Tests erhielt. Ich war so geplättet davon, wie schwer ein Blatt Papier in der eigenen Hand sein kann. In der Situation war ich beinahe paralysiert und starr vor Schock, meine Eingeweide ein einziger Knoten.

Meine Kinder sind tatsächlich hochbegabt! Die Begabungsdiagnostikerin unterstützte mich sehr gut und half mir dabei die Botschaft zu überbringen. Ganz einfühlsam sah sie meine Tochter und meinen Sohn an. Beide schaute grimmig zurück - Natürlich nicht gleichzeitig. Die Situation wiederholte sich 3 Jahre später wie ein Deja Vu, aber mit einem anderen Kind.

 

"Ich muss dir etwas Wichtiges sagen. Bei deiner Geburt wurde dir ein Geschenk gemacht. Dein Gehirn ist nämlich ganz besonders. Es gibt nur wenige Menschen auf der Welt, die so viel und schnell denken können wie du. Es ist wichtig, dass du das weißt und dass das ganz toll ist. Du kannst stolz auf dich sein." Der grimmige Blick meiner Tochter verwandelte sich in ein kleines Lächeln und mir kamen die Tränen. Dieser Moment ist immer noch ganz tief in meiner Erinnerung, weil er so bewegend für mich war. Insbesondere meine Tochter war immer der Meinung, dass sie dumm und falsch ist. Dass ihr nun jemand das Gegenteil sagte, dass sie sogar besonders ist, war wunderbar.

Damit war es raus und wir fuhren nach Hause. Beinahe schweigend.

 

Du hast da ein besonderes Geschenk

"Diagnose", und jetzt?!

Im Verlauf der Jahre habe ich dann herausgefunden, dass beide nicht nur hochbegabt, sondern auch hochreaktiv sind. Insbesondere mein Sohn zählt somit zu den "Twice Exceptionals" - sie sind zweifach außergewöhnlich, da sie sowohl in der Intelligenz, als auch in ihrem Temperament weit vom Durchschnitt abweichen und somit stetig vor Herausforderungen im Alltag stehen.

 

Meine Familie und ich sind dazu übergegangen vor und mit den Kindern offen darüber zu reden. Diese Entscheidung war bewusst gewählt, auch wenn viele andere Menschen das nicht befürworten würden. Ich bin nach wie vor davon überzeugt den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Über die Jahre ist es uns somit gelungen Bilder und Beschreibungen zu finden und sie den Kindern an die Hand zu geben. Das Resultat sind reflektierte kleine Menschen, die in der Lage sind ihre Gefühle und ihre inneren Kämpfe uns Erwachsenen begreiflich zu machen, damit wir ihnen bei der Lösung des Problems helfen können.

 

So kam es eines Abends zu einem Magic Moment mit meiner 10-jährigen Tochter:

Ich kam von der Arbeit nach Hause, sie hatte morgens ein Gespräch zwischen meiner Mutter und dem Freund meiner Schwester mitbekommen. Thema waren die Herausforderungen, vor denen hochreaktive und hochbegabte Kinder im Alltag stehen und wie oft ihre Kompensationsstrategien als Fehlverhalten gedeutet werden. Den Gesprächsinhalt schleppte sie nun schon den ganzen Tag mit sich herum. Es schien ihr schwer im Magen zu liegen und so entlud sich dann der gesamte Druck wie eine kleine Supernova direkt vor mir. "Mama, ich finde es scheiße, dass viele Menschen meinen Bruder und mich nicht verstehen und dass sie sagen, dass wir verzogen sind. Sind wir gar nicht! Wir sind einfach neurodivergent." Vor mir stand ein bewegter, authentischer kleiner Mensch, der zu einem glühenden Vortrag ansetzte. Ich hörte ihr gespannt zu: "Ich finde es unfair, dass Kinder wie mein Bruder und ich keine Unterstützung bekommen und dass uns keiner zuhört und versteht, keiner Rücksicht auf uns nimmt. Behinderte Menschen bekommen Hilfe, wir aber nicht! Und dass nur, weil man nicht sieht, dass unser Gehirn anders ist."

 

Ich bin einfach anders

Ich nickte zustimmend und sie fuhr fort: "Es macht mich wütend, dass die Menschen immer sagen, dass mein Bruder und ich frech und unerzogen sind. Das sind wir gar nicht! Wir haben aber Schwierigkeiten und keiner sieht das. Nur weil wir hochbegabt sind, glauben sie, dass alles so einfach für uns ist. Das ist es aber nicht!"

Ich erklärte ihr, dass es Menschen schwer fällt Handicaps zu verstehen und zu respektieren, wenn sie nicht sichtbar sind. Ein Rollstuhl ist sichtbar und dadurch sieht das Umfeld, dass einige Situationen Untersützung notwendig machen.

 

Die Nachwuchsspeakerin, sichtlich erregt, wurde eindringlicher und schaute mir tief in die Augen: "Ich bin nicht behindert und ich bin auch nicht krank! Ich bin anders und ich habe aber trotzdem Probleme und möchte nicht nur Hilfe und Verständnis bekommen, wenn ich behindert oder krank bin."

 

Ihre Worte berührten mich sehr und ich konnte sie so gut verstehen. "Weißt du Mama, ich finde es nicht in Ordnung, dass Erwachsene nicht sehen und verstehen, dass es Kinder wie meinen Bruder gibt. Wenn der explodiert, dann liegt das einfach daran, weil der das dann nicht können kann und nicht weil er es nicht können will."

 

Meine Schwester, die dem Gespräch schon eine Weile lauschte, kam hinzu und fragte, was ihr denn helfen würde, was sie sich von ihrem Umfeld und der Gesellschaft wünschen würde. "Ich möchte verstanden werden und dass die Leute Rücksicht auf uns nehmen. Es ist aber so schwierig, weil ihr ja auch irgendwann mal keine Löffel mehr habt. Das weiß ich auch."

 

Ich bin stolz auf meine Kinder!

Dieser Moment mit meiner Tochter gab mir so viel und ich bin immer noch stolz auf sie, wie treffend und klar sie formulierte. Ich merkte ihr an, dass sie wütend war, aber es war ein aufrichtiges und berechtigtes Wütend-Sein und weit weg von simpler kindlicher Bockigkeit.


Macht eure Kinder sprachfähig!

Wenn ich etwas in den letzten Jahren aus eigener Erfahrung gelernt habe, dann ist es die Tatsache, wie wertvoll und lohnend es ist, wenn ihr euren Kindern - unabhängig davon ob sie hochbegabt, hochreaktiv, hochsensibel, neurodivergent, behindert oder "normal" sind - dabei helft die richtigen Worte zu finden!

 

Ich kann euch nur ermutigen: Sprecht mit ihnen über ihre und eure Gefühle! Über die Guten und Schlechten. Seid dabei ehrlich und gesteht auch vor ihnen Schwäche ein. Nur so lernen sie, das Mama und Papa auch nur Menschen sind, die in bestimmten Situationen nicht mehr weiter wissen und sich auch mal daneben benehmen. Solange ihr als Eltern Verantwortung für euer Fehlverhalten übernehmt, weil ihr  z.B. nach einem anstrengenden Arbeitstag grundlos beim Abendessen rummoppert und euch später dafür entschuldigt, werden euch eure Kinder verzeihen! Seid nicht so hart zu euch selbst und schafft euch eigene Magic-Moments! Wenn ihr stetig daran arbeitet, werdet ihr irgendwann belohnt werden, wenn euer Mini-Me euch dann mitfühlend ansieht, zu euch herüberkommt und in den Arm nimmt

"Ach Mama! Du hast sicher einen schweren Tag gehabt, ich sehe das. Alle deine Löffel sind alle. Das ist nicht schlimm. Komm, ich nehme dich in den Arm. Ich liebe dich!"

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